Greywolf pflegte sein Exotendasein auch an Bord der Independence, wenngleich Delaware eine zunehmende Rolle darin spielte. Eher unspektakular wuchsen die beiden zusammen. Delaware lie? ihm klugerweise seine Ruhe, was dazu fuhrte, dass er es war, der ihre Gesellschaft suchte. Nach au?en hin gaben sie sich als Freunde. Aber Anawak entging nicht, wie das Vertrauen auf beiden Seiten wuchs. Die Signale waren unverkennbar. Immer seltener assistierte Delaware nun ihm, sondern kummerte sich zusammen mit Greywolf um die Pflege der Delphine.

Anawak fand Greywolf an der Bugkante, wo er im Schneidersitz hockte, den Blick seewarts gewandt. Er setzte sich neben ihn und sah, dass Greywolf an etwas schnitzte.

»Was ist das?«, fragte er.

Greywolf reichte es ihm. Es war ziemlich gro? und fast vollendet, ein kunstvoll gearbeitetes Stuck Zedernholz. Eine Seite mundete in einem Griff. Der weit gro?ere Teil zeigte ineinander verschlungene Figuren. Anawak erkannte zwei Tiere mit machtigen Gebissen, einen Vogel und einen Menschen, der offenbar zum Spielball der Kreaturen wurde. Er strich mit den Fingern uber das Material.

»Schon«, sagte er.

»Es ist eine Replik.« Greywolf grinste. »Ich mache nur Repliken. Fur Originale fehlt mir das Blut.« »Das reine Blut der Indianer.« Anawak lachelte.

»Verstehe schon.«

»Du verstehst wie immer nicht.«

»Schon gut. Was zeigt es?«

»Das, was du siehst.«

»Sei nicht so verdammt uberheblich. Erklar’s mir einfach oder lass es bleiben.«

»Es ist eine Zeremonienkeule. Tla-o-qui-aht. Das Original ist aus Walknochen gemacht. Entstammt einer privaten Sammlung aus dem spaten neunzehnten Jahrhundert. Was du siehst, ist eine Geschichte aus der Zeit der Vorfahren. Ein Mann stie? eines Tages auf einen geheimnisvollen Kafig mit allen moglichen Kreaturen und nahm ihn mit in sein Dorf. Kurz darauf wurde er krank. Ein starkes Fieber packte ihn, gegen das niemand etwas tun konnte. Keiner wusste, was dazu gefuhrt hatte, dass der Mann so krank war, aber dann traumte er selber den Grund. Er sah, dass die Kreaturen im Kafig schuld waren. In seinen Traumen griffen sie ihn an, weil sie namlich nicht einfach Tiere waren, sondern Transformer, Gestaltwandler.« Greywolf zeigte auf ein gedrungenes Wesen, das zur Halfte Saugetier und zur Halfte Wal war. »Hier siehst du einen Wolf-Killerwal. Im Traum fiel er uber den Mann her und packte ihn beim Kopf. Dann kam ein Donnervogel und versuchte den Mann zu retten. Du kannst sehen, wie er die Krallen in die Seiten des Wolf-Killerwals schlagt, aber wahrend sie kampften, erschien ein Bar-Killerwal, dem es gelang, die Fu?e des Kranken zu packen. Der Mann erwachte und erzahlte seinem Sohn, was er getraumt hatte. Kurz darauf starb er. Der Sohn schnitzte diese Keule und erschlug damit 6000 Gestaltwandler, um den Tod seines Vaters zu rachen.«

»Und was ist der tiefere Sinn?«

»Muss alles einen tieferen Sinn haben?«

»In diesem Fall wird es einen haben. Es ist der ewige Kampf, nicht wahr? Zwischen den Kraften des Guten und des Bosen.«

»Nein.« Greywolf strich sich das Haar aus der Stirn. »Die Geschichte erzahlt vom Leben und vom Sterben. Das ist alles. Am Ende stirbst du, so viel steht fest, und bis dahin ist es ein einziges Auf und Ab. Du selber bist machtlos. Du kannst dein Leben gut oder schlecht leben, aber was mit dir geschieht, bestimmen hohere Krafte. Wenn du im Einklang mit der Natur lebst, wird sie dich heilen, stellst du dich gegen sie, wird sie dich vernichten, aber die wichtigste Erkenntnis ist, dass nicht du die Natur beherrschst, sondern sie dich.«

»Der Sohn des Mannes scheint diese Erkenntnis nicht geteilt zu haben«, sagte Anawak. »Warum sonst hat er sich fur den Tod seines Vaters rachen wollen?«

»Die Geschichte sagt nicht, dass er richtig gehandelt hat.«

Anawak gab Greywolf die Zeremonienkeule zuruck, griff in seinen Anorak und forderte die Skulptur des Vogelgeists zutage.

»Kannst du mir auch dazu was erzahlen?«

Greywolf betrachtete das Stuck. Er nahm es in die Hande und drehte es. »Das stammt nicht von der Westkuste«, sagte er.

»Nein.«

»Marmor. Es kommt ganz woanders her. Aus deiner Heimat?«

»Cape Dorset.« Anawak zogerte. »Ich habe es von einem Schamanen bekommen.«

»Du lasst dir was von einem Schamanen schenken?«

»Er ist mein Onkel.«

»Und was hat er dir dazu erzahlt?«

»Wenig. Er meinte, der Vogelgeist wurde meine Gedanken in die richtige Richtung tragen, wenn es so weit ware. Und er sagte, dass ich dafur moglicherweise einen Mittler brauche.«

Greywolf schwieg eine Weile.

»Es gibt Vogelgeister in allen Kulturen«, sagte er. »Der Donnervogel ist ein alter indianischer Mythos, er reprasentiert viele Facetten. Er ist Teil der Schopfung, ein Naturgeist, ein hoheres Wesen, aber er steht auch fur die Identitat eines Clans. Ich kenne eine Familie, die ihren Namen auf einen Donnervogel zuruckfuhrt, den ihre Vorfahren einst auf dem Gipfel eines Berges in der Nahe von Ucluelet gesehen haben. Aber es gibt noch andere Bedeutungen fur Vogelgeister.«

»Sie tauchen immer in Verbindung mit Kopfen auf, nicht?«

»Ja. Erstaunlich, was? Auf alten agyptischen Darstellungen findest du oft das Bild eines vogelahnlichen Kopfschmucks. Dort hat der Vogelgeist die Bedeutung von Bewusstsein. Es ist im Schadelraum gefangen wie in einem Kafig. Sobald der Schadel geoffnet wird — im ubertragenen Sinne —, kann es entkommen, aber du kannst es auch wieder zuruck in den Schadel locken. Dann bist du wieder bei Bewusstsein oder wach.«

»Das hei?t, im Schlaf geht mein Bewusstsein auf Reisen.«

»Du traumst, aber deine Traume sind keine Phantasien. Sie zeigen dir, was das Bewusstsein in den hoheren Welten sieht, die dir normalerweise verborgen bleiben. Hast du mal die Federkrone eines Cherokee-Hauptlings gesehen?«

»In Wildwestfilmen, um ehrlich zu sein.«

»Macht nichts. Mit der Federkrone bringt er zum Ausdruck, dass sein unsichtbarer Geist in seinem Kopf Feder um Feder Gestalten schreibt. Einfacher gesagt, der Kopf hatte eine Reihe guter Einfalle, und darum ist er Hauptling.«

»Die beflugelten Gedanken.«

»Durch Federn, ja. Bei anderen Stammen reicht oft eine einzige Feder, sie hat dieselbe Bedeutung. Der Vogelgeist reprasentiert das Bewusstsein. Darum durften Indianer auf keinen Fall ihren Skalp oder ihre Skalpfeder verlieren, weil sie zugleich ihr Bewusstsein verloren, schlimmstenfalls fur immer.« Greywolf runzelte die Brauen. »Wenn ein Schamane dir diese Skulptur gegeben hat, dann hat er dich auf dein Bewusstsein hingewiesen, auf die Kraft deiner Ideen. Du sollst sie nutzen, aber dafur musst du deinen Geist offnen. Er muss auf Wanderschaft gehen, und das hei?t, er muss sich mit dem Unbewussten zusammenschlie?en.«

»Warum hast du eigentlich keine Feder im Haar?«

Greywolf verzog die Mundwinkel. »Weil ich, wie du so treffend bemerkt hast, kein richtiger Indianer bin.«

Anawak schwieg. »Ich hatte einen Traum in Nunavut«, sagte er nach einer Weile.

Greywolf erwiderte nichts.

»Sagen wir, mein Geist ging auf Reisen. Ich sank durch das Meereis in die schwarze See. Dann verwandelte sich die See in einen Himmel, und ich stieg einen Eisberg hinauf, bis ich sehen konnte, dass er im blauen Meer trieb. Nach allen Seiten war nichts als Wasser. Wir reisten zusammen uber dieses Meer, und ich dachte, der Eisberg wird schmelzen. Komisch, ich empfand keine Angst, nur Neugierde. Ich wusste, dass ich versinken wurde, wenn es so weit war, aber ich furchtete nicht zu ertrinken. Es kam mir eher so vor, als ob ich eintauchen wurde in etwas Neues, Unbekanntes.«

»Was hast du erwartet, dort unten vorzufinden?«

Anawak dachte nach. »Leben«, sagte er.

»Was fur Leben?«

»Ich wei? nicht. Einfach nur Leben.«

Greywolf blickte auf die kleine, grune Marmorskulptur des Vogelgeists in seiner riesigen Hand.