Anawak folgte ihr zu dem Kadaver. Zwei gro?e metallene Koffer und ein Container standen bereit, voller Werkzeug fur die Autopsie. Einen Orca zu zerlegen war etwas anderes, als einen Menschen aufzuschneiden. Es bedeutete Schwerstarbeit, Unmengen von Blut und gewaltigen Gestank.

»Die Presse wird gleich hier sein mit einem Haufen Doktoranden und Studenten im Schlepptau«, sagte Oliviera mit einem Blick auf die Uhr. »Da es uns schon mal zusammen an diesen traurigen Ort verschlagen hat, sollten wir schnell uber die Auswertung deiner Proben sprechen.«

»Seid ihr weitergekommen?«

»Hier und da.«

»Und Ihr habt Inglewood ins Bild gesetzt.«

»Nein. Ich dachte, das besprechen wir erst mal unter uns.«

»Klingt, als hattet ihr nichts Rechtes in der Hand.«

»Sagen wir mal so — zum einen sind wir verwundert und zum anderen ratlos«, erwiderte Oliviera. »Was die Muscheln angeht, existiert jedenfalls keinerlei Literatur, die sie beschreibt.«

»Ich hatte schworen konnen, dass es Zebramuscheln sind.«

»Einerseits ja. Und auch wieder nicht.«

»Klar mich auf.«

»Es gibt zwei Betrachtungsweisen. Entweder haben wir es mit einem Verwandten der Zebramuschel zu tun oder mit einer Mutation. Die Dinger sehen aus wie Zebramuscheln, sie bilden die gleichen Schichtungen, aber etwas an ihrem Byssus ist komisch. Die Faden, die den Fu? bilden, sind ziemlich dick und lang. — Wir haben uns spa?eshalber angewohnt, sie Dusenmuscheln zu nennen.«

»Dusenmuscheln?«

Oliviera verzog das Gesicht. »Uns fiel nichts Besseres ein. Wir konnten eine Menge von ihnen lebend beobachten, und sie verfugen … nun ja sie lassen sich nicht einfach treiben wie gewohnliche Zebramuscheln, sondern sind bis zu einem gewissen Grad navigationsfahig. Sie saugen Wasser an und sto?en es aus. Der Rucksto? treibt sie voran. Zugleich benutzen sie die Faden, um die Richtung zu bestimmen. Wie kleine, drehbare Propeller. Erinnert dich das an irgendwas?«

Anawak uberlegte.

»Tintenfische schwimmen mit Raketenantrieb.«

»Einige. Es gibt aber noch eine Parallele. Man kommt nur drauf, wenn man ein echter Eierkopf ist, aber davon haben wir ja genug im Labor. Ich rede von Dinoflagellaten. Manche dieser Einzeller besitzen zwei Gei?eln am Korperende. Mit der einen bestimmen sie die Richtung, die andere dreht sich und treibt sie an.«

»Ist das nicht ein bisschen weit hergeholt?«

»Sagen wir, es ist Konvergenz in gro?zugiger Auslegung. Man klammert sich an alles. Ich kenne jedenfalls keine Muschel, die sich auf ahnliche Weise fortbewegt. Diese hier sind mobil wie ein Schwarm Fische, und irgendwie erhalten sie trotz der Schalen sogar Auftrieb.«

»Es wurde jedenfalls erklaren, wie sie auf hoher See an den Rumpf der Barrier Queen gelangen konnten«, sinnierte Anawak. »Und daruber seid ihr verwundert?«

»Ja.«

»Woruber seid ihr denn ratlos?«

Oliviera trat zur Flanke des toten Wals und strich mit der Hand uber die schwarze Haut.

»Uber diese Gewebefetzen, die du von unten mitgebracht hast. Wir wissen nicht, was wir damit anfangen sollen, und offen gesagt konnten wir auch nicht mehr viel damit anfangen. Die Substanz war weitgehend zerfallen. Das bisschen, was wir analysiert haben, lasst zumindest den Schluss zu, dass es sich bei dem Zeug an der Schiffsschraube und dem, was an deiner Messerspitze hangen geblieben ist, um ein und dasselbe handelt.

Daruber hinaus erinnert es an nichts, was wir kennen.«

»Du meinst, ich habe E.T. vom Rumpf gesabelt?«

»Die Kontraktionsfahigkeit des Gewebes erscheint uber proportional ausgebildet. Von hoher Festigkeit und zugleich enorm flexibel. Wir wissen nicht, was es ist.«

Anawak runzelte die Stirn, »Anzeichen von Biolumineszenz?«

»Moglich. Wieso?«

»Weil ich den Eindruck hatte, dass dieses Ding kurz aufblitzte.«

»Das, was dich uber den Haufen geschwommen hat?«

»Es schoss heraus, als ich im Belag rumstocherte.«

»Moglicherweise hast du ein Stuck davon abgeschnitten, und das fand es nicht witzig. Obwohl ich bezweifle, dass dieses Gewebe uberhaupt so etwas wie Nervenbahnen aufweist. Ich meine, um Schmerz zu empfinden. Eigentlich ist es nur … Zellmasse.«

Stimmen naherten sich. Uber den Strand kam eine Gruppe Menschen auf sie zu. Einige trugen Kameras, andere Schreibunterlagen.

»Es geht los«, sagte Anawak.

»Ja.« Oliviera sah ratlos drein. »Was sollen wir jetzt machen? Soll ich die Daten an Inglewood schicken? Ich furchte nur, sie werden nichts damit anfangen konnen. Offen gestanden ware es mir lieber, wenn ich noch weitere Proben bekame. Vor allem von dieser Substanz.«

»Ich setze mich mit Roberts in Verbindung.«

»Gut. Sturzen wir uns ins Gemetzel.«

Anawak betrachtete den reglosen Orcas und empfand Wut und Hilflosigkeit. Es war deprimierend. Erst waren die Tiere wochenlang ausgeblieben, und jetzt lag wieder eines tot am Strand.

»So ein verdammter Mist!«

Oliviera zuckte die Achseln. Mittlerweile hatten sich auch Fenwick und Ford in Bewegung gesetzt.

»Spar dir deinen Blues fur die Presse«, sagte sie.

Die Autopsie dauerte uber eine Stunde, wahrend derer Fenwick, assistiert von Ford, den Orca aufschnitt, seine Eingeweide, das Herz, die Leber und die Lungen zutage forderte und den anatomischen Aufbau erlauterte. Der Mageninhalt wurde ausgebreitet und enthielt eine halb verdaute Robbe. Im Gegensatz zu Residents fra?en Transients und Offshore Orcas Seelowen, Tummler und Delphine und ruckten im Rudel auch schon mal einem gro?en Bartenwal zu Leibe.

Unter den Zuschauern waren die Wissenschaftsjournalisten in der Minderheit. Dafur hatten sich Vertreter von Tageszeitungen, Magazinen und Fernsehsendern eingefunden. Im Wesentlichen die Truppe, auf die sie spekuliert hatten, allerdings konnten sie kaum Fachwissen voraussetzen. Fenwick erklarte darum als Erstes die spezifischen Merkmale des Korperbaus.

»Die Form ist die eines Fisches, aber nur, weil die Natur diesen Bauplan fur ein Wesen ubernommen hat, das vom Land ins Wasser ubersiedelte. So etwas geschieht oft. Wir nennen das Konvergenz. Vollig unterschiedliche Spezies bilden konvergente, also in der Wirkung gleichartige Strukturen aus, um bestimmten Umgebungsanspruchen zu begegnen.«

Er entfernte Teile der dicken Au?enhaut und legte den darunter liegenden Speck frei.

»Noch ein Unterschied: Fische, Amphibien und Reptilien sind Wechselwarme, also Kaltbluter, was bedeutet, dass ihre Korpertemperatur der jeweiligen Umgebungstemperatur entspricht. Makrelen gibt es zum Beispiel am Nordkap ebenso wie im Mittelmeer, aber am Nordkap wurden wir eine Korpertemperatur von 4° Celsius messen, bei einer Mittelmeermakrele hingegen 24° Celsius. Fur Wale trifft das nicht zu. Sie sind Warmbluter — Warmbluter wie wir.« Anawak beobachtete die Umstehenden. Soeben hatte Fenwick eine Kleinigkeit gesagt, die immer wieder funktionierte: »… wie wir« lie? die Leute aufhorchen. Wale sind wie wir. Da war sie wieder, die eng gezogene Grenze, innerhalb derer Menschen begannen, Leben mit Wert zu versehen. Fenwick fuhr fort: »Ob sie nun gerade in der Arktis weilen oder in der Bucht von Kalifornien, Wale halten immer eine konstante Korpertemperatur von 37° Celsius. Dafur fressen sie sich eine Fettschicht an, die wir Blubber nennen. Sehen Sie diese fette, wei?e Masse? Wasser wirkt Warme entziehend, aber diese Schicht verhindert, dass die Korperwarme verloren geht.« Er sah in die Runde. Seine behandschuhten Hande waren rot und schleimig vom Blut und Fett des Orca.

»Zugleich kann der Blubber das Todesurteil fur einen Wal bedeuten. Das Problem aller strandenden Wale ist ihr Korpergewicht und eben diese an sich wunderbare Speckschicht. Ein 33 Meter langer und 130 Tonnen schwerer Blauwal wiegt das Vierfache des gro?ten Sauriers, der je gelebt hat, aber auch ein Orca bringt es auf neun Tonnen. Nur im Wasser sind solche Wesen moglich, getreu dem Lehrsatz des Archimedes, dass jeder in eine Flussigkeit getauchte Korper so viel von seinem Gewicht verliert, wie die von ihm verdrangte Flussigkeitsmenge wiegt. An Land werden Wale darum von ihrem eigenen Gewicht erdruckt, und die isolierende Wirkung der Speckschicht gibt ihnen den Rest, weil die aufgenommene Umgebungswarme nicht wieder abgegeben wird. Viele Wale, die stranden, krepieren an einem Uberhitzungs schock.«